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Die Geister, die ich rief - werde ich sie wieder los?

Aktualisiert: 24. Okt. 2022

Wie verkürzte und verdickte Faszien entstehen, was sie im Körper bewirken, wie man ihre Entstehung verhindert und mögliche Wege aus der Misere.


Die Faszie ist ein sehr stabiles und widerstandsfähiges Organ. Sie hat enorme Selbstheilungskräfte. Grund hierfür ist, dass die Faszie ein Heer von Reparaturzellen hat. Man nennt sie Fibroblasten. Blasten nennt man Zellen, die etwas aufbauen. „Fibra“ heißt Faser. Faszien bestehen hauptsächlich aus kollagenen und elastischen Fasern. Also sind Fibroblasten wortwörtlich Zellen, die Fasern aufbauen. Fibroblasten sind nicht an einem festen Ort gebunden. Sie patrouillieren innerhalb eines begrenzen Gebiets, überprüfen ständig ihre Faszie und korrigieren das Gewebe, sollte etwas nicht passen.


Daneben passen die Fibroblasten die Faszie ständig den aktuellen Gegebenheiten an. Ändern wir unsere Gewohnheit und fangen z.B. an Gewichte zu heben, brauchen wir, um der neuen Anforderung gerecht zu werden unter anderem in den Unterschenkeln eine höhere Stabilität. Diese kann der Körper über ein dichteres, stabileres und engmaschigeres Fasziennetz gewährleisten. Die Fibroblasten werden deshalb schon beim ersten Training beginnen, in der Unterschenkelfaszie mehr feste Fasern einzubauen und elastische Fasern abzubauen. Gleichzeitig vernetzen sie die Faszienschichten mehr miteinander. – Klar das geht zu Kosten der Elastizität und Beweglichkeit. Ein Gewichtheber wird deshalb nicht die Eleganz eines Tänzers haben, der sich dank der hohen Elastizität seiner Faszien grazil bewegen kann, dafür kann er aber hohe Gewichte stemmen, ohne sich dabei einen Muskelfaserriss zuzuziehen.


Wir halten fest: Faszien unterliegen einem ständigen Umbau gemäß den Anforderungen, die an den Körper gestellt werden. Jeder Zustand der Faszie bringt Vorteile aber auch Nachteile. Z.B. Beweglichkeit versus Stabilität. Eines der 4 wichtigsten osteopathisches Prinzipen heißt dementsprechend: Funktion und Struktur wirken aufeinander: Die Funktion, d.h. das was ich mache, wirkt auf die Struktur (hebe ich viele Gewichte, werden Faszien stabiler und der Muskel wird kräftiger) und die Struktur wirkt sich auf meine Möglichkeiten aus (habe ich feste, stabile Faszien kann ich gut und stabil stehen, grazile Bewegungen sind aber eher schwierig).


Was bedeutet das nun für uns, die wir intensiv der Digitalisierung ihren Tribut zollen?


Schauen wir uns mal Paul Mustermann an. Paul ist Angestellter mit einem Bürojob. Seit Corona arbeitet er im Homeoffice. Außerdem treibt er sich mit seinem Handy viel in den sozialen Netzwerken rum.



Auffällig an seiner Haltung ist der vorgeneigte Kopf. Die ökonomischste Kopfhaltung für die Menschen ist wenn der Kopf gerade und aufrecht direkt über der Wirbelsäule gehalten wird. Denn so trägt die knöcherne Wirbelsäule den schweren Kopf von allein. Nur bei der Bewegung des Kopfes, z.B. Blick zur Seite, steuert die Muskulatur dagegen, damit der Kopf nicht „runterfällt“.


Aber Paul neigt bei derü Benutzung des Handys als auch beim Computer seinen Kopf nach vorne, wie es fast jeder von uns tut. Der Kopf verliert dadurch sein stabiles Gleichgewicht. Solange Paul in dieser Haltung verweilt und sich mit den Geräten beschäftigt, muss die Rückenmuskulatur den Kopf halten. D.h. Pauls hintere Hals- und Rückenmuskulatur sind mit Gewichtsheben beschäftigt. Paul trainiert dadurch seine hintere Haltemuskulatur und gibt den Fibroblasten das Signal, die Rückenfaszie zu verstärken. Das konstante Vorneigen des Kopfes bedeutet aber auch, dass die vordere Muskulatur den Kopf nach vorne ziehen muss. Auch das ist auf die Dauer gesehen eine schwere Arbeit für die Brustmuskulatur, weshalb auch hier die Fibroblasten aktiviert werden.


Die Fibroblasten werden nicht lange auf sich warten lassen. Sie werden sich auf den Umbau stürzen, um der Muskulatur zu helfen. Die vordere Faszie ist zu lang und dehnbar und muss verkürzt werden, damit der Muskel nicht ständig überbelastet ist und die hintere Faszie ist für diese Haltung zu kurz und nicht stabil genug. Sie muss dicker, länger werden und mehr mit den anderen Faszienschichten vernetzt werden. Je öfters Paul sein Training „elektronische Geräte“ durchführt, umso besser wird die Faszie sich dieser Gegebenheit anpassen. Paul kann immer länger diese Haltung einnehmen. Die Faszie wird sich so lange umbauen, bis Paul sich in dieser Haltung so richtig wohl fühlt, denn je stabiler die Faszie wird, umso weniger muss die Muskulatur die Haltearbeit leisten und umso komfortabler fühlt sich Paul in dieser Position. Leider kann er jetzt den Kopf nicht mehr mittig auf der Wirkbelsäule halten, da die vordere Faszie verkürzt ist. Alle Bewegungen, die einen geraden Kopf bedürfen werden jetzt anstrengend für Paul. Es kommt zu unangenehmem Ziehen beim Einnehmen der von der Schöpfung vorgesehenen Haltung. Das gleiche gilt auch für die Lendenwirbelsäule, denn Paul hat sich durch die Sitzposition vor dem Computer eine gekrümmte Haltung antrainiert mit verkürzter Bauchmuskulatur und überspannten Rücken. – Kein Wunder, dass Paul irgendwann Rückenschmerzen bekommt. Steht Paul auf und will mit seinen Kameraden Fußball spielen, kommt er schon nach kurzer Zeit aus dem Atem, da auch die Faszien der Lunge sich verkürzt haben, um das Atmen optimal an die Sitzposition anzupassen. Und im Bett kann er nicht mehr ohne Schmerzen gerade auf dem Rücken liegen, da die auch die Beinmuskulatur sich auf eine angewinkelte Haltung eingestellt hat. Er zieht deshalb lieber die Beine an und schläft auf der Seite. Der Schlaf ist nicht mehr so tief, da er immer wieder von unangenehmem Ziehen geweckt wird und die Haltung ändern muss.


Paul hadert mit sich und seinem Körper und zieht den Schluss – er wird jetzt alt! Da Bewegung weh tut, wird er sich immer mehr auf „ruhigere Tätigkeiten“ zurückziehen und dadurch weiter an Beweglichkeit verlieren.


Aber muss es wirklich so weit kommen? Paul ist nicht älter als sein Freund Karl, der Förster. Der spielt mit ihm in der Mannschaft und hält das Fußballspiel bis zum Ende locker durch. Im Gegensatz zu Paul hat er einen körperlich abwechslungsreichen Job. Auch er verbringt Stunden am Computer und chattet gerne mit seinen Freunden. Aber im Gegensatz zu Paul zwingt ihn sein Beruf und sein Hund immer wieder aufzustehen und Spaziergänge und Wanderungen durch den Wald zu unternehmen. Dort trainiert er seine gerade Haltung und gibt der Faszie das Signal, dass der Kopf nach vorne nicht die alleinig selig machende Position ist.


Was könnte Paul tun, um als gar nicht in den Teufelskreis zu kommen?


Die Ideen sind nicht neu, aber vielleicht werden sie jetzt besser verstanden. Nehme ich eine Haltung dauerhaft über einen längeren Zeitraum ein wird mein Körper alles tun, dass diese Haltung für mich einfach wird. Damit wir nicht in einer bevorzugten Haltung verharren, sollten wir immer wieder andere Haltungspositionen einnehmen. Es gibt keine optimale Haltung, jede Haltung hat positive und auch negative Aspekte. Wichtig ist die Abwechslung. Wenn ich zum Sitzen gezwungen bin, dann abwechslungsreich. Mal vorne vorgebeugt auf dem Stuhl, dann wieder angelehnt. Mal mehr nach links gedehnt, dann wieder nach rechts gedreht. Hier ist der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Heute gibt es viele fahrbare Schreibtische. Dadurch kann man die Höhe ständig wechseln. – Wie wäre es mit aller Stunde einen Positionswechsel? Ich habe ein Trampolin in meinem Arbeitszimmer stehen. Bei Besprechungen, bei denen man nichts mitschreiben muss und nicht unbedingt das Video an sein muss, eine großartige Möglichkeit, die Faszien mit kleinen niederfrequenten Hüpfern zum Schwingen zu bringen und gleichzeitig ein großartiges Ganzkörpertraining.


Dann gibt es die immer wieder beschworenen obligatorischen 5 Minuten Pause nach einer halben oder ganzen Stunde Arbeit. – Aber nicht sitzen bleiben und ins Handy schauen, sondern aufstehen und etwas tun. Etwas aufräumen, die Toilette aufsuchen, etwas Wasser trinken, mit dem Kollegen am Gang quatschen, zuhause die Wäsche aus der Maschine räumen und aufhängen oder eine Sportübung machen


Wenn schon Handy, dann gerne mal auf dem Bauch liegend surfen. Das ist die genaue Gegenposition zur üblichen Haltung. Statt einen eingezogenen Bauch, angewinkelte Beine und einen nach vorne gestrecktem Kopf, eine „Kobra-Haltung“ einnehmen, wie die Jogis es nennen würden. Auf dem Bauch liegend, ausgestreckte Beine, vielleicht sogar die Unterschenkel nach oben angezogen und auf die Ellenbogen abgestützt. Der Kopf geht automatisch in eine nach hinten geneigter Position.


Und was kann Paul machen, damit er seine „Fasziengeister“, die er selbst hervorgerufen hat wieder loswird?


Nun zuerst sollte er nicht mit sich und seinem Körper hadern, sondern sich bewusste machen, dass sein Körper nur das Beste für ihn will. Pauls aktueller Körper, ist das Ergebnisse seines bisherigen Lebens. Er trägt alle Erlebnisse mit sich und ist am meisten durch das geprägt, was Paul am häufigsten macht. – D.h. eine Änderung in Richtung „Befreiung von den Fasziengeistern“ kann nur stattfinden, wenn Paul in seinem Leben die krank machenden Gewohnheiten ändert. Kleine Änderungen bringen oft schon schnell einen Erfolg. Aber der ist kurzweilig, wenn Paul wieder in die alten Muster fällt. Es bedarf also eine Entscheidung zur Änderung. Eine Entscheidung zu einem körperlich abwechslungsreicheren Leben, so wie ich es oben beschrieben habe.


Die gute Nachricht für Paul lautet: Der Körper ist wandlungsfähig, und baut bis an unser Lebensende um, abhängig von den Impulsen, die wir ihm geben. Wir erinnern uns: Funktion bedingt die Struktur.


Weiter braucht Paul Durchhaltevermögen. Handylesen in der Kobra wird am Anfang nicht leicht sein, da ja alle Strukturen, die in dieser Haltung gedehnt werden, verkürzt sind. Deshalb wird Paul die Haltung am Anfang nur eine kurze Zeit einnehmen können. Aber bei mehrmaligen kurzen täglichem „Training“ wird die Faszie immer mehr umgebaut und irgendwann wird es ihm sogar Spaß machen, in der Haltung zu verweilen.


In Pauls Zustand wäre osteopathische Hilfe in der Anfangsphase sinnvoll. Ich bin immer wieder überrascht, wieviel Anteil das beeinflussbare Nervensystem an der Verkürzung der Faszien hat. Wir erinnern uns: Neben der Struktur, die in unserem Fall von den Fibroblasten aufgebaut wird, gibt es die Funktion. Bei den Faszien ist es des Zusammenziehens und Dehnen. Diese werden durch das Nervensystem abhängig vom Bedarf gesteuert. Auf Befehl des Nervensystems verkürzt oder dehnt sich die Faszie schon lange bevor die Faszie umgebaut wird. Mit ihr wird dann automatische der von ihrem umwobenen Muskel kürzer, ohne dass der Muskel arbeiten muss. Wir sprechen dann von einem „verkürzten Muskel“. Auf Faszien oder Nerven spezialisierte Osteopathen können nun das Nervensystem davon überzeugen, den dauerhaft wirkenden Verkürzungsbefehl aufzugeben. Der folgende Effekt ist immer wieder verblüffend: Wie Punkt 1 Uhr in der Nacht der Spuk im Geisterschloss vorüber ist, schmilzt die Faszie dahin und Paul bekommt auf Anhieb einen höheren Bewegungsradius und Freiheiten in den Gelenken, sodass es ihm um einiges leichte fallen wird, seine Gewohnheiten zu ändern.


Paul kann seine selbst hergerufenen (Faszien-)Geister wieder loswerden, nur geht das nicht auf Anhieb. Es dauert, braucht Änderungswille und im besten Fall eine gute Begleitung.


Birgit Roppelt, Heilpraktikerin und Osteopathin aus Kolbermoor bei Rosenheim


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